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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 21.10.2020


Winterreise. Kinostart 22. Oktober 2020
Ellen Katz

Der Flötist Günter Goldschmidt und die Bratschistin Rosemarie Gumpert fanden im Kulturbund deutscher Juden, von den Nazis umbenannt in "Jüdischer Kulturbund", einander und ein musikalisches Zuhause auf Zeit. 1941, in letzter Minute, verhalf ihnen ein Auftritt in der Botschaft der USA zum rettenden Visum und zur Flucht. Fast 60 Jahre später erzählt ihr Sohn Martin Goldsmith ihre Geschichte in seinem Buch "The Inextinguishable Symphony: A True Story of Music and Love in Nazi Germany".




Martin Goldsmith schrieb dann auch das Drehbuch zu Winter Journey / Winterreise gemeinsam mit Regisseur Anders Østergaard. Der 2019 verstorbene Bruno Ganz verkörpert Günter Goldschmidt mit sanfter Melancholie. Dieser Film ist ein Wagnis, denn er erzählt nicht nur eine, sondern mindestens drei Geschichten. Die Geschichte der Goldschmidts, die des Kulturbundes und die des Sohnes in Auseinandersetzung mit dem Vater. Dazu kommt als Subtext Bruno Ganz, einer der grandiosesten Schauspieler seiner Generation, in seiner letzten Rolle. Es unterstreicht sein Format, dass Ganz diesen Günter Goldschmidt, einen sich bescheidender Mann, der nur noch für seine Frau und seinen Sohn lebte, mit einer Authentizität verkörpert, bei der er mit seiner Rolle zu verschmelzen scheint. Er lässt das Publikum vergessen, dass der echte Günter Goldschmidt, der zögerlich und manchmal sogar ein bisschen grantig, seinem echten Sohn, dessen Stimme im Off zu hören ist, Rede und Antwort steht, nicht mehr lebt. Mit dem Wissen, dass wir auch den Schauspieler Bruno Ganz verloren haben, wird Winter Journey zu einem würdigen Abschied von Beiden, dem prominenten Künstler und dem, in die kunstlose Anonymität eines Jobs, Geflüchteten.

Auseinandersetzung mit dem Vater

Die Dialoge sind eine Verdichtung der Gespräche, die Martin Goldsmith erst nach dem Tod seiner Mutter mit seinem Vater nach jahrzehntelangem Schweigen führte. Dieses Schweigen ist etwas ebenso Charakteristisches seiner Generation wie das Dagegenanfragen der Nachfolgenden. Das Schweigen und die Vorstöße, es zu brechen, betrifft nicht nur das Verhältnis zwischen den Generationen im jüdischen Kontext, aber beides hat hier andere Ursachen. Das Recht der Kinder, die Geschichte der Eltern zu erfahren, trifft hier auf den Schmerz des Verlustes, vor dem diese sich schützen wollen. Und doch sagt Bruno Ganz als Günter Goldschmidt: "Ich habe Glück gehabt." Dabei verlor er bis auf seine Frau alles, was sein Leben in Deutschland ausgemacht hatte: seine gesamte Familie, seine Sprache, sein Erbe und auch den Willen oder die Kraft, an seine vielversprechende Karriere als Flötist anzuknüpfen, die von den Nationalsozialisten zerstört worden war.

Nach der Flucht arbeitete er in einem Möbelgeschäft in Arizona, einem Ort, an dem er sicher nicht nur den Wechsel der Jahreszeiten und die Bäume vermisste. Doch eine Rückkehr nach Deutschland, zum Elternhaus, war ihm nicht mal besuchsweise möglich. Was ihm blieb, sind die Zeilen aus der Winterreise von Schubert: Fremd bin ich eingezogen, Fremd zieh´ ich wieder aus… Lass irre Hunde heulen / vor ihres Herren Haus, die sein Alter Ego Bruno Ganz vor sich hinsingt. Was könnte wohl sein Lebensgefühl besser beschreiben? Das titelgebende Leitmotiv, so urdeutsch in einem englischsprachigen Film. Günter Goldschmidt ist nie wirklich angekommen. Ganz anders seine Frau Rosemarie. Sie spielte 21 Jahre die Bratsche im St. Louis Symphony Orchester und richtete sich in ihrem neuen Zuhause ein, erst in St. Louis, später in Arizona.

Eine neue Erzählform

Dass Winter Journey/Winterriese weder thematisch überfrachtet ist, noch Langeweile aufkommen lässt, liegt allerdings nicht nur am genialen Bruno Ganz, sondern an der innovativen (Nach)Inszenierung, die alle Ebenen des Films fließend ineinandergreifen lässt. So fügt der Regisseur die Darsteller_innen des jungen Musiker_innenpaares (Leonard Scheicher und Izabella Nagy) nicht nur als Fotos in Archivaufnahmen ein, sondern lässt sie auch darin laufen. Ein Verfahren, das besonders bei den Standbildern den dramaturgischen Effekt noch verstärkt, sich isoliert, am liebsten übersehen, in einer feindlich erstarrten Umwelt bewegen zu müssen. Kurze, nachgestellte Szenen pointieren Schlüsselmomente im Leben des jungen Günter. Produktionen zwischen Dokumentar- und Spielfilm bedienen sich häufig illustrativer Spielsequenzen, bei denen Interviews mit realen, gealterten Zeitzeug_innen dazwischen montiert werden, um die Authentizität des Gezeigten zu beglaubigen, diese aber meist eher in Frage stellen. Hier ist es anders – selten wirkt eine Mischform wie dieser Essayfilm so aus einem Guss. Wie heißt es doch? Wer wagt, gewinnt.

AVIVA-Tipp: Ein Film der bei all seinem Facettenreichtum niemals den Faden verliert und nicht nur für Fans von Bruno Ganz viel zu bieten hat. Auch wer mehr über den Kulturbund deutscher Juden, den späteren Jüdischen Kulturbund anhand zwei seiner Mitwirkenden erfahren möchte, kommt hier auf ihre oder seine Kosten.

Zum Regisseur: Anders Østergaard wurde 1965 in Kopenhagen geboren. Er konzentriert sich ausschließlich auf das Genre des Dokumentarfilms für Kino und Fernsehen, wobei seine Filme größtenteils auf von ihm geschriebenen Drehbüchern basieren. Oft greift er auf eine Mischung aus Archivmaterial und neuen Aufnahmen zurück, die dokumentarische Authentizität mit psychologischer Intimität verbinden. Bisher war nur einer seiner Filme Burma – Berichte aus einem verschlossenen Land seiner in Deutschland zu sehen.
Zum Autor: Martin Goldsmith wurde 1952 in St. Louis, Missouri als Sohn von Günter Goldschmidt und Rosemarie Gumpert Goldschmidt geboren. Er beschreibt seine Kindheit als ein ganz gewöhnliche. Aber dennoch hing für ihn spürbar ein großer Schatten über der Familie. Lange Zeit wusste er nur, dass seine jüdischen Eltern, aus Deutschland stammten und dass seine Verwandtschaft im zweiten Weltkrieg gestorben sei. Er wurde bekannt als Radiomoderator für klassische Musiksendungen beim National Publik Radio, der einzigen Sendeanstalt, die unseren Öffentlich-rechtlichen vergleichbar ist. Erst als erwachsener Mann 1996 brach er den Bann und befragte seinen Vater nach dem Leben der Eltern in Deutschland. Im Jahr 2000 erschien sein Buch über ihre Geschichte. Die deutsche Übersetzung unter dem Titel: "Die unauslöschliche Symphonie. Musik und Liebe im Schatten des "Dritten Reiches" - eine deutsch-jüdische Geschichte" folgte 2002 bei Herder.

Mehr Infos: Martin Goldsmith erzählt die Geschichte seiner Eltern während einer Lesung von "The inextinguishable symphony: a story of music and love in Nazi Germany". (Aufgenommen während der Konferenz UniverCity 2002 an der Ball State University in Muncie, Indiana. Einführung von Susan Harmon): dmr.bsu.edu

Kulturbund deutscher Juden. Jüdischer Kulturbund

Er spielt im Buch wie im Film "Winterreise" eine zentrale Rolle. Nach dem Rauswurf des jüdischen Studenten Günter Goldschmidt aus dem Konservatorium 1935 kommt ein Angebot des Kulturbundes, einen erkrankten Kollegen zu vertreten, gerade als Günter sich schon eine Wohnung in Stockholm organisiert hatte. Trotzdem nimmt er das Angebot an und verliebt sich in die Bratschistin Rosemarie Gumpert. Das Wirken und die Problematik beziehungsweise Herausforderungen des Kulturbunds deutscher Juden (der 1935 in Jüdischer Kulturbund umbenannt werden musste) werden ausführlich dargestellt. Durch die individuelle Sicht des Protagonisten und die dokumentarische Einbeziehung der führenden Personen – des Intendanten Kurt Singer und des Reichskulturverwalters Hans Hinkel sowie des musikalischen Leiters und Dirigenten Rudolf Schwarz – wird die ganze Ambivalenz des Jüdischen Kulturbunds anschaulich. Zwar war er die einzige Arbeitsmöglichkeit jüdischer Künstler und Künstlerinnen nach 1933 und ein Ort kultureller Selbstbehauptung, insgesamt jedoch ein von den Nationalsozialisten kontrolliertes Ghetto und letztlich eine tödliche Falle.
Mehr Infos zum Kulturbund deutscher Juden: www.dhm.de und www.dnb.de

WINTERREISE
OT: WINTER JOURNEY
Nach dem Buch "The Inextinguishable Symphony: A True Story of Music and Love in Nazi Germany" von Martin Goldsmith
Buch: Anders Østergaard und Martin Goldsmith, nach einer Buchvorlage von Martin Goldsmith
Regie: Anders Østergaard
Co-Regie: Erzsebet Racz
Kamera: Henner Besuch
Schnitt: Anders Villadsen
Mischung: Martin Steyer
Sound Design: Dominik Schleier
Produzent_innen: Mette Heide & Thomas Kufus
DK/D 2019 90 Min.
Verleih: Real Fiction
Kinostart: 22. Oktober 2020
Mehr zum Film, Spieltermine und der Trailer unter: www.realfictionfilme.de

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Beitrag vom 21.10.2020

AVIVA-Redaktion